Die nackte Wahrheit
„Käse, Naturjoghurt, Haferflocken…. ach ja Klorollen, die brauch ich auch noch…!“ Etwas konfus, die Einkaufsliste vor mich hin murmelnd, laufe ich durch die Gänge des Einkaufsladens. Die letzten Tage waren wieder super anstrengend gewesen. Mir ist so gerade so gar nicht nach einkaufen zumute. Aber das ist dem Kühlschrank egal. Er bleibt da standhaft und weigert sich, sich selbst zu füllen.
Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. „Was ist denn bloß wieder los mit mir?“ Ja, ich weiß, aus meinem seminargeschulten “Seelsorge-Blickwinkel” erfasse ich die Situation sehr schnell. Etwas ist vorgefallen, was einen wunden Punkt aus der Vergangenheit angetriggert hat. „Dass mich das auch immer so extrem mitnehmen muss“, ärgere ich mich. Sofort buhlen die alten Verlustängste wieder um Aufmerksamkeit. Hier zwischen Vollkornnudeln und Klopapier fühle ich mich ziemlich unwohl. „Ob man mir das ansieht wie mitgenommen ich bin“, rätsele ich. Ich habe Augenränder, habe letzte Nacht kaum geschlafen.
Statt dessen war ich auf der „Gedanken-Kirmess“ unterwegs.
Ich habe keine Fahrgerätschaft ausgelassen, war ein regelrechter „Karussellhobber“. Und so drehte ich meine Runden auf dem „Teufelsrad“ (ja das gibt es ironischerweise wirklich), fuhr endlos mit der „Geisterbahn“ durch die Dunkelheit und fiel auf dem „Sky fall“ aus allen Wolken. Furchtbar! Ich knipste das Licht an und bemühte mein Tagebuch.
“Ausgeliefert”, notierte ich.
Ein paar Sätze weiter kristallisieren sich erste Gründe für meine Gefühlslage heraus.
Es geht um Bedürfnisse und die Tatsache, das ich mich immer und immer wieder in der Situation wieder finde, meine Bedürfnisse anderen Menschen oder Lebenssituationen anpassen zu müssen.
„Kollateralschaden“ schrieb ich weiter in mein Buch.
Ich fühle mich wie ein Kollateralschaden! Irgendwann schlief ich ein. Ich bekam wohl einen Drehwurm von den Karusselfahrten.
Im Laden greife ich rasch zum Klopapier und schiebe den Einkaufswagen Richtung Kasse – vorbei am Zeitschriftenregal.
„Was ist denn das? Das gibt es doch nicht?“, rufe ich.
Die Ausgabe 2 habe ich überall gesucht, wollte sie unbedingt lesen. Jetzt liegt hier fast allein auf einem Regal die Ausgabe 3! Dr. v. Hirschhausens Gesund Leben! Abrupt bleibe ich stehen. Soll ich die Zeitschrift jetzt mitnehmen? Noch während ich überlege, liegt die Zeitschrift wie von Zauberhand im Wagen. Na gut, die 5,€ machen den Braten nicht fett.
Die Einkaufe waren verstaut und ich schiele den Eckhard argwöhnisch an. Wohl wissend, das es bei der Headline „Die nackte Wahrheit“ um Hautpflege geht, und nicht um die seelischen Offenbarungen der Sandra K., bleibe ich skeptisch. Schließlich habe ich da ja schon einschlägige Erfahrungen mit seinen „Gesundheitsheftchen“ gemacht. Wer weiß also, wer weiß….
Erstmal eine Latte Macchiato aufbrühen. Dann blättere ich mich vorsichtig durch die Seiten. Ich lese von den Erlebnissen eines Seefahrerarztes und amüsiere mich über Eckhards Glosse über „die nackte Wahrheit des Anti Aging Zirkus“. Ich wäge mich in Sicherheit…. Oh ein Artikel über die Arbeit einer Notfallseelsorgerin. Das lese ich später in Ruhe….
„Mama hat MS“ Die Geschichte einer besonderen Mutter-Tochter-Beziehung. Fotos zieren die Geschichte einer jungen Frau, die sich um ihre MS-kranke Mutter kümmert.
„Da ist noch so viel Ungelebtes bei Mama. Sie hat sich gar nicht entfaltet. Aber uns so viel gegeben.“
Und so kümmerte sich die Tochter um die schwer behinderte Mutter. Erst sind es kleinere Dinge, wie die Spülmaschine ausräumen oder einkaufen für die Familie. Irgendwann reichte dies nicht mehr. Sie brach ihr Studium ab, zog wieder zu Hause ein und pflegte die Mutter. Bis, nein nicht bis zum Tod, sondern zunächst einmal bis zum Heim. Die Mutter ging in ein Heim.
Es mutete an, als hätte einer meine Geschichte aufgeschrieben.
Verfremdet, damit man die Personen im realen Leben nicht wieder erkennt.
Die Tochter, die sich um den schwer behinderten Vater kümmerte. Erst kleine Dinge, wie Formalitäten erledigen oder etwas auf dem Computer tippen. Irgendwann reichte dies nicht mehr. Sie reduzierte ihre Arbeit als Büchereileiterin auf die Hälfte und pflegte den Vater. Gott sei Dank hatte sie ihre erste Wohnung direkt im Nachbarhaus gefunden. Sie pflegte den Vater bis zum Tod.
Ne man, diese Familie hat auch noch den gleichen Namen wie wir! Ich lese weiter….von Reisen, die die junge Frau mit ihrer Mutter machte. Paris, Amsterdam…. die Mutter war glücklich.
Mein Vater wollte nach Irland…. wir schafften es nicht mehr.
Die letzten Tage bekommen plötzlich einen Sinn. Immer wieder befand und befinde ich mich in Situationen wieder, in denen ich mich ausgeliefert fühle. Ganz häufig waren da Menschen, die aus heiterem Himmel weg gingen. Und dann stand ich da, mit der Wucht meiner Empfindungen, meiner Bedürfnisse. Ich fühlte mich “wie ausgeliefert”! Ich war doch noch nicht fertig, ich wollte doch auch gerne noch etwas sagen… sie gingen einfach weg. Sie starben einfach weg.
Menschen mit denen ich noch nicht „fertig gelebt“ habe.
Wie es mir dabei erging, dafür war kein Raum – keine Zeit. Ich musste mich anpassen – dass es mir dabei vielleicht schlecht ging… Kollateralschaden eben. The show must go on, auch nach dem Tod des geliebten Menschen.
Ich lese noch den Artikel über die Notfallseelsorgerin
„Sag nie zum Kind eines Verstorbenen „Dein Vater ist eingeschlafen!“.” Ja, das habe ich schon gelernt. Es muss klar ausgesprochen werden, das ein Mensch gestorben ist, gerade bei Kindern. Sagst du „der Papa ist eingeschlafen“ kann es passieren das dieses Kind nie wieder schlafen gehen will, weil es Angst hat dann wie Papa nicht mehr aufzuwachen.
Nein, an klaren Worten fehlte es meinen Überbringern nie. „Opa ist tot“ sagte die Oma. Ich war damals 9 Jahre und weinte hysterisch los. Die Oma herrschte mich an, das ich leise sein soll, sie verstünde am Telefon nichts mehr. „Papa ist tot“ rief mir meine Mutter auf der Strasse entgegen. Danach kümmerten sich Ärzte und Nachbarn um sie während ich eingekugelt wie ein Embryo in meinem alten Kinderzimmer lag.
Da war keiner der „pädagogisch wertvoll“ sagte: „Ich bin Seelsorgerin und jetzt ganz für dich da. Und ich habe so viel Zeit für dich wie du brauchst.“
Auch dieser Artikel traf ins Schwarze.
Bis heute kann ich meine Bedürfnisse schwer äußern, nicht zuletzt weil ich oft selbst nicht weiß was ich will. Bis heute wünsche ich mir das da einer ist, der in Krisenzeiten „so viel Zeit für mich hat wie ich brauche.“ Bis heute leide ich darunter mit etlichen Menschen nicht „fertig gelebt“ zu haben. Bis heute vermisse ich meinen Papa und wäre gerne mit ihm nach Irland gereist.
Und dann triggert mich fast am Ende des Kapitels dieser Mutter-Tochter-Geschichte noch auf andere Weise an. Bis heute habe ich nämlich Sorge, das sich diese Geschichte zwischen Papa und mir ein Stück weit zwischen mir und meinen Kindern wiederholen könnte. Ich habe auch eine Autoimmunkrankheit… und ich habe auch so viele eingeschränkte Tage. An denen reicht die Kraft ebenso wie bei „Frau Hoffmann“ nur für einen Ausflug „in dasselbe Café um die Ecke. Die Mutter bestellt einen Latte Macchiato und einen Kuchen aus der Vitrine…“
Wisst ihr was? Ich blättere lieber zurück und amüsiere mich über Herrn Hirschhausens Glosse über die Geheimnisse von Pfirsichhaut, wo allenfalls die Tube Falten bekommt.
3 Gedanken zu „Die nackte Wahrheit“
Als Kind nicht wahrgenommen zu werden, wenn der Papa und andere gestorben sind kenne ich auch. Da fühlt man sich einsam und hilflos zwischen den ganzen Gefühlen der Erwachsenen. Und weiß überhaupt nicht was man mit den eigenen Gefühlen machen soll.
Ich finde es krass, wenn sich Kinder so intensiv um ihre Eltern kümmern. Ich liebe meine Eltern, aber mein Studium abrechen und wieder nach Hause ziehen… Ich weiß nicht, ob ich das könnte.
Aber sehr bewundernswert!
Liebste Grüße.
Carmen <3
Ein wirklich schön geschriebener Beitrag, der mich an manchen Stellen zum Schmunzeln, an anderen zum Nachdenken brachte! Ich habe meine Großeltern erst im späten Teenager-/frühen Erwachsenenalter verloren und erinnere mich kaum noch, wie es mir übermittelt wurde, nur wie schlimm man sich danach fühlt.
Liebe Grüße
Jana