Sicher und geborgen

Sicher und geborgen

Diskretion! Bitte Abstand halten!

Brav stoppte ich meinen forschen Gang und blieb vor dem Schild, welches in angemessener Reichweite vor dem Postschalter positioniert war, stehen. Am Schalter selbst kramte ein älterer Herr gerade nach Kleingeld.

Eine Dame zwängte sich zwischen mir und dem Schild vorbei. Ungezogen positionierte sie sich unmittelbar hinter diesem Mann. Während ich noch überlegte ob ich mich ärgern soll, schweifte mein Blick über das Zeitschriftenregal der Postfiliale. “Das gibt es doch nicht!”, freute ich mich und lief zielgerichtet auf den Anlass meiner Begeisterung zu.

“Dr. v. Hirschhausens Gesund leben – Magazin, die Januarausgabe.”

Überall galt sie als ausverkauft und in einer kleinen Postfiliale lag doch sage und schreibe noch ein Exemplar.

Sicher und geborgen
Sicher und geboren – Zeitschriftenartikel

Im Geiste schob ich, immer noch vor dem Diskretionsschild stehend, Staubsauger und Wäschekorb zur Seite. First things first, und das waren jetzt bestimmt nicht mehr die Hundehaare auf dem Boden oder gar das Wäsche falten.

“Der nächste bitte!” “Die Dame am Schild ist vor mir dran!”, hörte ich die Frau, welche sich eben vordrängelte, sagen. Oh wie schön, hätte ich mich sogar umsonst aufgeregt, wenn ich mich dann aufgeregt hätte. Noch ein Grund zur Freude an diesem Morgen!

“Wie ich 10 Kilo verlor…und Sie das auch schaffen können!” Hhmmm, 10 Kilo brauche ich nicht abzunehmen denke ich, meinen dampfenden Cappuccino schlürfend. Ich sitze gemütlich auf dem Sofa und lese Herrn Hirschhausens Inhaltsübersicht quer. OK, fange ich mal mit der Titelgeschichte an, seinen Erlebnissen mit dem Intervallfasten.

Ich gebe zu, ich liebe sein Art, dem interessierten Laien medizinische Zusammenhänge zu erläutern. Fachliche Information, gewürzt mit seiner ganz speziellen Art von Humor. Es ehrt mich, das mich eine Leserin mal mit ihm verglichen hat, als ich über meine damalige Darmspiegelung schrieb.  Ich liebe Arztsendungen, schlage immer wieder medizinische Fachwörter nach, ich gehe darin auf.

Nun ja, nach dem erheiternden Vortrag über Hüftgold, der zu analysierenden Frage, warum es in Minibars kein Gurkensticks gibt, blättere ich weiter.

“Du gibst mir Halt und Liebe – Sie ist die kleine, oft unterschätzte Schwester des Glücks: Geborgenheit. Wer sicher gebunden ist, kommt gut durchs Leben…..”

lese ich. Wie gebannt versinke ich in dem Artikel.

Sicher und geborgen
Sicher und Geborgen

“Der Mensch ist auf Bindung programmiert, stärker als jedes andere Lebewesen…. Damit ein Kind mit der Welt und ihrem Getöse zurecht kommt, braucht es jemanden, der ihm signalisiert: Keine Angst!…. Aber wie ist es bei denen, die in der besonderes wichtigen Zeit ihres Lebens alleine waren…. Angst, Panik und Dauerstress können die Informationsverarbeitung im Gehirn von Kindern massiv beeinträchtigen. Bei besonders hohen Cortisolspiegeln…. ist die Verbindung zwischen den beiden Gehirnbereichen, die das emotionale Gleichgewicht steuern, eingeschränkt – Angst und psychische Instabilität können die Folge sein.”

lese ich weiter.

“Wer gerade in der ersten Zeit seines Lebens viel Stress erlebt und schlechte Bindungserfahrungen macht, der bekommt, so unfair das ist, tatsächlich so gut wie keine Chance mehr, Urvertrauen zu entwickeln! Was aber bleibt: Die Möglichkeit, Insel der Ruhe zu finden…”

Ich würde lügen, wenn ich sage, das in der Sekunde ein Ruck durch meinen Körper ging und das Entsetzen kam.

Tatsächlich las ich den Artikel relativ teilnahmslos.

Als ob es mich, die die ersten 9 Monate fast ausschließlich schwerstkrank im Krankenhaus lag, nichts angehen würde. Und so kochte ich erstmal das Mittagessen.

sicher und geborgen
Sicher und geborgen

Eine eigentlich harmlose Meinungsverschiedenheit mit meinem Mann! Bei mir wieder mal das blanke Entsetzen. “Ich bin alleine, ich habe niemanden!” Das keine Kind in mir ist untröstlich, setzt sich ins Auto und fährt weg. Später kommt es wieder, die Eheleute konnten sich versöhnen.

Montag Morgen, Zeitnot! “Hast du…!” “Kannst du…..!” “Immer muss ich…..!” “Ich kann jetzt nicht reden, muss zur Arbeit!” Die Haustür fiel ins Schloss. Minutenlag saß ich im Schlafanzug auf meinem Bett…. und verfiel, wie Seelsorger sagen, in mein altes Muster (Skirpt), was auch immer.

Ich war völlig überwältigt von meinen Gefühlen, fühlte mich ausgeliefert. Zwischendurch versuchte mir die “erwachsene Sandra” Worte wie “emotionale Reife, Selbstverantwortung” zuzurufen. Die kann mich mal…. mal sehen wie stabil die blöde Stiftebox ist.

Ich war so wütend, wütend auf meinen Mann, wütend auf mich, wütend auf Gott. Hat er mir nicht letztes Jahr klar und deutlich gezeigt das ich mein Trauma überwunden habe? Das war doch so ein wunderbares Jahr gewesen. Was soll das denn jetzt?

Später beruhigte ich mich äußerlich, innerlich aber kein bisschen. Die ganze Nacht lag ich wach. Geht das jetzt alles wieder los?

“Ich kann nicht mehr!”, betete ich zu Jesus.”Bitte zeig mir hier und jetzt was mit mir los ist!”

“Geborgenheit”

Ganz klar formte sich dieses Wort in mir. Geborgenheit! Es war der Artikel, der mich so aus der Bahn warf. Jetzt, 3 Tage später, wurde es offenbar. In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf mehr.

Wie gerädert stand ich am anderen Tag auf. Ich fasste zwei Entschlüsse. Zuerst sah ich mir das Video der Geburt meines jüngsten Sohnes an, welches ich 14 Jahre nicht anschauen konnte. Ich hatte wie immer einen Kaierschnitt bekommen müssen. Ich sah den Kleinen, wie er in der Wanne von einer Schwester gebadet wurde und vor allen Dingen hörte ich mich – im Hintergrund -jammernd. Ich höre die Krankenschwester, die mich mahnte leiser zu sein und mich zu gedulden. Ich käme gleich dran. Keiner, auch ich nicht in meinem von der Vollnarkose benebelten Zustand, ahnte, das ich gerade innerlich am verbluten war.

Eine Ärztin ließ meine Jammerei aufhorchen und schallte meinen Bauch. “Hier ist alles voll Blut! Wir müssen sofort operieren!” Szenenwechsel…. mein Mann filmte eine kurze Sequenz wo ich auf der Intensivstation lag. Keiner wusste ob ich überlebte.

Ich starrte auf dem Bildschirm und ich weiß nicht wer da schwerer atmete. Die Sandra im Film oder die, die es sich gerade ansah.

Plötzlich hatte ich den Wunsch meine Mutter anzurufen. Wir reden in letzter Zeit nicht so oft miteinander, sie hat selbst einiges zu tragen. Ich musste sie fragen, ich brauchte Gewissheit: “Wie war das, als ich damals im Krankenhaus lag? Wie war das mit den Besuchen? Wie war das mit dem kleinen Jungen, der an dem gleichen Herzfehler, den ich hatte, starb? Wie war das?”

Jetzt habe ich Gewissheit, ich habe es mir nicht eingebildet…. Ich war oft alleine, meine Eltern durften nicht immer zu mir. Der kleine Junge lag im Bettchen neben mir, wimmerte immer und und immer wieder, Tag für Tag. Eines Morgens war es  plötzlich still. Weinende Menschen – sein Bettchen wurde rausgeschoben.

Angst, Panik, Dauerstress, Schmerzen… statt ausreichend Schutz, Positive Erlebnisse…. mein Urvertrauen blieb auf der Strecke.

Angst, Panik, Dauerstress, Schmerzen, die über die Folgejahre dann noch genährt wurden. Ich war nicht das letzte Mal als Kleinkind alleine im Krankenhaus, mein Vater erkrankte an Multipe Sklerose und war immer wieder in Krankenhäusern, mein “Lieblingsopa” wurde eines Morgens vom Krankenwagen abgeholt und kam nie mehr wieder, mein Vater später dann auch nicht mehr, dann meine Freundin… alle weg… dann mit 32 liege ich wieder im Krankenhaus…. ich habe wieder überlebt.

Kein anderer überlebte! Nur ich! Warum, wozu?

Ich verstehe immer mehr. Immer wieder erlebte ich Traumata in meinem Leben oder/und wurde durch neue Erlebnisse angetriggert. Viel lernte ich letztes Jahr und gewann dadurch mehr emotionale Reife, lern(t)e für mich selbst verantwortlich zu sein, mich selbst zu klären, selbst für mich zu sorgen…. So verstand ich ziemlich gut, warum ich Trennungsängste, Angst vorm Verlassen werden habe. Ich sammelte auch erste Informationen über “Kind-Ich”, “Eltern-Ich” und “Erwachsenen-Ich”. Schritt für Schritt führte mich Gott…. bis heute.

Nach und nach offenbaren sich Einzelheiten, die mir immer mehr Fragmente meiner Geschichte und auch allgemeines Wissen zum Thema Trauma und seine Folgen offenbaren. Auch dieser große Wunsch nach Ruhe, den ich in letzter Zeit besonders stark empfinde, leuchtet mir jetzt ein. “Inseln der Ruhe” schaffen um Geborgenheit zu finden. Eins nach dem anderen machen, Tätigkeiten, wie zum Beispiel eine Mahlzeit einzunehmen, bewusst zu tun. Wie sage ich:

“Nimm die Hetze aus deinem Leben, dann freut sich deine Seele!”

Oft wünschen wir uns, das sich Dinge schneller ändern, das es schneller besser wird. Gottes Wege sind manchmal anders, als wir es uns wünschen. Er wird wohl am besten Wissen was und in welchen Mengen er uns offenbart und mit welcher Geschwindigkeit er uns durchs Leben führt.

Befiehl dem HERRN dein Leben an und vertraue auf ihn, er wird es richtig machen. (Psalm 37,5)
♥-ichst Sandra

 

 

 

 

8 Gedanken zu „Sicher und geborgen

  1. Oh die Zeitung habe ich auch gekauft 😉
    Ich lese diese unglaublich gerne. Wobei manchmal auch nur mist drin steht ^^.
    Ich finde deinen Text sehr schön und sehr ehrlich geschrieben. Du sprichst einem wirklich aus der Seele.

    Alles liebe

  2. Beim Lesen habe ich einen Kloß im Hal bekommen. Einige Sachen kenne ich zu gut und auch ich frage mich und den da oben warum ich? Doch eine Antwort bekomme ich nie.

    Fühle dich ma gedrückt und ich bewundere deine Kraft.
    Toll das du dir das von der Seele schreibst.

    Liebe Grüße
    Julia

  3. Ich glaube ich wäre der Dame am Postschalter um den Hals gefallen..an solchen Tagen kann ich mich grundsätzlich nie zurückhalten..bzw in solchen Momenten. Meistens lasse ich einen ziemlich frechen Kommentar los und grinse dann unverschämt hihi

    Alles Liebe,
    Janine

  4. Liebe Sandra, dein Artikel berührt mch. Ich kenne auch so viele Warum-Fragen. Und die Sache mit den Zeitfenstern in der Entwicklung (Wenn sie es in der Zeitspanne nicht lernt/erfährt, dann wird sie es nie mehr richtig…) hat mich auch bei meiner Tochter sehr erschlagen, dann hat mich die Jahreslosung damals total ermutigt “Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.” Ich darf an Wunder glauben (mit fast 6 Jahren fing sie doch an, sprechen zu lernen)! Und die andere Antwort ist mein Blogtitel geworden: Du bist vollkommen besonders und Gott hat einen vollkommen besonderen Plan mit deinem Leben, vollkommen werden wir erst bei ihm im Himmel sein. Ganz liebe Grüße, Jojo

  5. Liebe Sandra,
    wie ich finde ein sehr schöner Artikel!
    Man merkt, dass es dir gut tut, deinen Gefühlen beim Schreiben Ausdruck zu verleihen!
    Liebste Grüße!
    Deine Jana 🙂

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