Zwischen den Seiten

Zwischen den Seiten

Ich verliere mich mal wieder zwischen den Buchseiten. Ehrlich gesagt glaube ich das ich mich hin und wieder auch darin verstecke. Deswegen habt ihr vielleicht auch so lange nichts mehr von mir gehört ,-). Das ist nämlich so einfach. Buch auf und swupps verschluckt es mich auf angenehme Weise. Ich fühle mich augenblicklich wohl, so eingeladen von ihr. „Komm begleite mich ein Stuck durch mein Leben“, fordert sie mich auf und steckt mich mit ihrer Begeisterung an. Heute sitzen wir in einem Park in Berlin, zusammen mit ihren zwei Freundinnen. Die Sonne wärmt mein Gesicht und meine Arme. Um uns wogt das Leben. Ich lasse mich fallen, komme bei mir an. Oder besser gesagt bei der Version von mir, die ich sehr mag. Diese Parallelsandra, in der ich ein wenig – oder auch ein wenig mehr – anders lebe als „in Echt“. Sie ist längst da angekommen, wo sich die echte Sandra noch hinbemüht.

Wir sitzen auf einer Decke und unterhalten uns über das Leben, über die großen und kleinen Sorgen und auch darüber was uns in den letzten Tage ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich trage mein Haar offen, ein kleiner Windstoß weht mir eine Strähne ins Gesicht.

Ich fühle mich frei und unbeschwert.

Es piepst. „Woher kommt das Piepsen?“ frage ich und schaue mich dabei suchend um. Da, schon wieder – ein lang gezogener Piepton. Meine Begleiterinnen reagieren nicht, reden und lachen weiter.

Ich hebe meinen Kopf ein Stück an und dabei unwillkürlich auch raus aus den Buchseiten. Ich finde mich auf meinen Lieblingssessel in meiner Bubble (meinen besonderen Wohlfühlort im Haus) sitzend wieder. Und jetzt registriere ich auch woher der Ton kommt. Seufzend stehe ich auf und lege dabei meinen kleinen Ausflug in Berlins Szenepark auf meinen schicken Beistelltisch.

„Ich komme ja schon!“ schimpfe ich den Trockner an, der erbarmungslos weiter um Aufmerksamkeit buhlt. „Jetzt rede ich schon mit dem Trockner“ schüttle ich erst meinen Kopf und im Anschluss die leicht verknitterte Wäsche, die ich dem Unruhestifter zuvor entnommen habe.

Was ist bloß los mit mir? Ich habe doch nun wirklich alles, was man haben kann. Kein Grund zum Unzufrieden sein, wirklich nicht. Dennoch kann es der Protagonistin meiner Lektüre leider nicht gleichtun, als sie mir gestern in einem Café erzählte das sie sich selbst gefunden habe und zwar in sich selbst. Und das auch noch in sehr viel jüngeren Jahren.

Ich fühle mich von diesem Ziel meilenweit entfernt.

Dabei ist es nicht so, das ich mein Leben nicht schön ausgestatttet habe – angefüllt mit schönen Erlebnissen und Erinnerungen. Ich habe das beste Leben geführt, was unter den besonderen Startbedingungen und dem damaligen Zeitgeist möglich gewesen war. Vielleicht ist das das Problem, diese Einschränkungen, dieses „trotz alledem“. Vielleicht macht mich das jetzt in den Fünfzigern so „trotz-ig“.

Ich wollte eine selbstbewusste Frau werden, bei sich angekommen und in sich ruhend, die mit Überzeugung aus ihrem Urvertrauen genährt heraus sagen kann das alles gut ist und ihr nichts passieren kann.

Eben nicht mit diesem Urvertrauen als Startrampe ausgestattet, welches mich mit Schwung in ein Leben voller Selbstbewusstsein, Verbundenheit und Autonomie schleuderte, buk ich stets „kleine Brötchen“, traute mir wenig zu, redete meine Gaben und Fähigkeiten klein.

Mit Angst, Tränen und dem ständigen Gefühl das gleich wieder etwas Schlimmes geschehen würde, schlich ich mit gesenktem Kopf durch meine Kindheit und Jugend. Und es geschah Schlimmes. Menschen die ich liebte, wurden krank, schwer krank und starben. Andere, an deren Gräber ich nicht stand, starben „den Tot auf Raten“.

„Das sind die Hormone“, dozierte meine Mama, als ich ihr bei einem Besuch in einfachen Worten erzählte, das es mir nicht so gut geht. „Ich kenn das noch mit den Wechseljahren“, sinnierte sie weiter um dann unvermittelt in einen ihrer stereotypen Sätze zu wechseln. „Ich war grad schön laufen“, teilte sie mir freudig mit und ich lächele etwas gequält. Demenz ist beispielsweise solch ein „Tot auf Raten“, was das Wesen und die Fähigkeiten eines Menschen angehen. Ein wirklich tiefes Gespräch mit ihr zu führen ist nicht schon länger nicht mehr möglich.

Mir fehlt Familie. Das war immer schon ein Problem bei uns und führt weit zurück. Gefühlt war ich immer schon die Älteste, selbst als ich noch die Jüngste war. Ich lernte, das sich die Menschen in meinem Umfeld zusehens auf mich verließen! Trotz meiner Angst und Tränen entwickelte ich mich zu deren sicheren Hafen. Dabei hätte ich es mit meinem eigenen mehr als holprigen Start ins Leben dringend anders herum gebraucht.

Es war wie es war und ich reifte (?) innerhalb dieses Rahmens zu einer jungen Frau heran. Ich wählte das Mainstreamleben – Ausbildung, eine Weile arbeiten, Ehemann, Kinder, Haus und Hund. Daran ist nichts auszusetzen und ich ging total auf im Ehe- und Muttersein.

Erst jetzt, 30 Jahre und einem neuen Zeitgeist der Aufklärung und gewisser Salonfähigkeit von psychischem Wissen und dessen Zusammenhänge später, bekommt „das Kind (in mir) einen Namen“. Na ja im Grunde viele Namen. In meinen Ausbildungen begegneten und begegnen mir allerlei Begriffe, die das beschreiben, was ich damals er- und gelebt habe. Diese vagen Gefühle von damals, das sich etwas komisch anfühlt, wurden nach und nach zu Tatsachen.

Auf einer Seite ist das befreiend, weil ich mein Leben nun besser einordnen kann. Auf der anderen Seite ist es auch herausfordernd, denn unwillkürlich kommen auch diese „wenn…dann“ Gedanken hoch. „Wenn das nicht gewesen wäre, oder wenn ich das und das eher gewusst hätte… dann hätte ich oder hätte ich nicht dieses oder jenes getan“.

Und dass es meine Generation gerade mit voller Wucht in dieser Ü50-Umbruchzeit trifft, fordert den einen oder anderen nochmal besonders heraus. Das hat aber nichts mit den Wechseljahren als solches zu tun oder mit irgendwelchen Hormönchen, wie meine Mama meint. Seit Corona erlebt das Streben nach mentaler und psychische Gesundheit einen „Aufschwung“. Und das ist gut! Die Folgegenerationen haben jetzt das Glück den Prozess der Veränderung viel eher anzugehen – Jahrzehnte vor deren sinkenden Hormonspiegeln :-).

So oder so ich möchte etwas verändern und freue mich, das ich nach und nach mehr Zusammenhänge verstehe. In diesem Prozess wird mir auch klar das es unterschiedliche „wenn…danns“ gibt. So gibt es „wenn…danns“ , die ich auch jetzt noch umsetzen könnte, andere „wenn…danns“ kann ich vielleicht als abgespeckte Version vom Original verwirklichen und leider gibt es auch die eine oder andere „hätte hätte Fahrradkette“ , die ich innerlich gehen lassen muss.

Das ist alles soweit für mich in Ordnung, wenn (und da ist es schon wieder dieses Wort) es nicht auch noch eine weitere Auswirkungen auf das Hier und Jetzt und vielleicht darüber hinaus hat. Denn auch wenn es immer so schön heißt das nur wir alleine unser Leben verändern können, so wird es kompliziert, wenn andere Menschen mit involviert sind. Hier spielen beispielsweise transgenerationale Traumata eine Rolle und die Art und Weise, wie die nächsten Generationen damit umgehen. Ich kann schließlich nur für mich entscheiden – entscheiden ob ich vergebe und auch um Vergebung bitte.

Vergeben, was Generationen vor mir in vielerlei Hinsicht auch nicht besser wussten oder besser machen konnten oder ob ich im Groll der verpassten Chancen stecken bleibe. Um Vergebung bitten, weil sich der Schleier der Verwundungen leider erst jetzt in voller Gänze gehoben hat. Was ich nicht entscheiden kann ist, ob mir vergeben wird. Und das kann, je nachdem um was es sich dabei handelt, traurige und belastende Folgen haben.

Auch wenn ich eben nicht alles in der Hand habe, so kann ich dennoch Veränderung anstreben. Ich will jetzt nicht der große Systemsprenger werden, es reicht wenn ich diesen Rahmen dehne, in den mich meine spezielle Kindheit gedrückt hat.

Wir haben in vielen Bereichen die Möglichkeit Veränderungen anzugehen oder uns zu entscheiden sich treiben zu lassen. Letzteres wird gerne durch kurzfristigen oberflächlichen Genuss ausgefüllt, was Fachleute mit „Kompensations- oder Schutzstrategien“ betiteln. Ablenk- und Vermeidungsmanöver um nicht zu tief zu graben, denn wenn wir ehrlich sind kostet das schon eine Menge Kraft, dem Leben eine neue Wendung zu geben – egal in welchem Alter.

An manchen Tagen tauche ich auch lieber in die Welt meiner jeweiligen Protagonistinnen aus Büchern und Serien und lebe imaginär ein Stück weit Elemente eines Lebens, welches ich gerne in meine Realität integriert wüsste.

An vielen anderen Tagen werde ich jedoch aktiv. Derzeit stecke ich beispielsweise noch in der Ausbildung zur „Expertin für ganzheitliche mentale Gesundheit“ und es macht mir Freude mein neues Wissen anzuwenden und im Alltag zu integrieren. Denn es gibt neben den „wenn…danns“ noch ein „deswegen“. Es nennt sich posttraumatisches Wachstum und bedeutet, das man auch etwas Wertvolles aus seiner Geschichte mitnehmen kann. Das es einen Menschen stärker macht und man, gewissermaßen als Kompetenzzentrum, anderen Menschen genau in diesen Bereichen zur Seite stehen kann.

Ich möchte lernen „größere Brötchen“ zu backen, um bei der Metapher von oben zu bleiben. Mir mehr zutrauen, meine meine Gaben und Fähigkeiten anerkennen und anwenden.

Und diese vage Vorstellung einer Frau, die in sich angekommen ist, nimmt mehr und mehr Gestalt an. Brooke McAlary bezeichnet sie in ihrem Buch „Care, Was wir gewinnen, wenn wir uns Zeit lassen“ als „die innere Rebellin“:

Wir alle besitzen diese innere Rebellin. Diese Version unser selbst, die im Inneren wohnt (manchmal so tief drinne im Inneren, das sie nicht zu existieren scheint), die sich weniger um das „Sollte“ und mehr um das Bauchgefühl schert. Die Version unser selbst, die glücklich zu ihrem eigenen einzigartigen Rhythmus tanzt und darauf vertraut, dass sie nach ihren persönlichen Werten lebt…. Sie weiß, was uns mit Freude erfüllt. Sie kennt den Ort in unserem Bauch, der ganz warm wird, wenn sich alles richtig anfühlt. Sie kennt unsere tiefsten Sehnsüchte und weiß, was wir mit einem freien Tag anstellen würden, wenn er uns geschenkt würde. Sie weiß, wobei wir am glücklichsten sind, wann wir uns am meisten gehalten und getragen fühlen und bei welchen Ritualen unser Herz vor Freude hüpft. Für Kontrollkästchen oder Leitern oder „Sollte“ interessiert sie sich nicht. Sie ist unsere innere Rebellin und runzelt für ihr Leben gern die Stirn“

Brooke McAlary , Care, Was wir gewinnen, wenn wir uns Zeit lassen, Bastei Lübbe AG, Köln 2022

Ja das Stirnrunzeln… das kenne ich. Meine innere Rebellin beherrscht diese Disziplin schon ganz gut. Sie tut derzeit eine Menge um gehört und gesehen zu werden.

Die Autorin ermutigt in ihrem Buch sich gedanklich ein Bild von ihr zu machen. Ich muss sofort an diese Parallelsandra zwischen den Buchseite denken, die mich schon zur einen oder anderen Dehnübung aus dem Rahmen der Kindheitsmuster motiviert hat. Sie ist es auch, die mir seit einigen Monaten eine andere Sicht aufs „Allein sein“ schenkt. Und zwar durch ein Synonym:

„Allein sein“ kann man auch als „für sich sein“ ausdrücken.

Ich bin „für mich“!

Will heißen: Ich stehe zu mir mit all meinen Facetten, Emotionen, Bedürfnissen, Grenzen und Fähigkeiten. Auf den Weg zum „für mich sein“ setze ich mich nun mit Mut, Entschlossenheit, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen und vielem mehr auseinander. Und das sind Eigenschaften, die es wert sind gelebt zu werden. Immer, ganz egal ob allein oder in Gemeinschaft.

Ich habe die Weisheit beileibe nicht mit Löffeln gegessen. Und ich lerne jeden Tag dazu und entscheide mich täglich neu für diesen Weg. Mal mehr und mal weniger motiviert. Und so trinke ich manchmal mit meiner Protagonistin zwischen den Buchseiten einen Kaffee, manchmal ganz für mich allein in einem Café sitzend und manchmal in Gesellschaft und Verbundenheit mit einer Freundin. Letzteres gestaltet sich im Übrigen auch besser, wenn man gelernt hat auf gesunde Weise „für sich zu sein“.

Ich kann das Leben eines anderen viel intensiver und wertvoller berühren, wenn ich in meinem eigenen zu Hause bin.

Herzlichst, eure Sandra

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